Erläuterungen zum Stein der Weisen

Der Stein der Weisen

Auszug aus «Der Morgen der Magier»

Louis Pauwels / Jacques Bergier

Der Stein der Weisen

Der moderne Alchimist und der Geist der Forschung – Eine Beschreibung dessen, was der Alchimist in seinem Laboratorium tut – Die unendliche Wiederholung des Experiments – Was erwartet er? – Die Bereitung des Dunkels – Das elektronische Gas – Die lösende Flüssigkeit – Ist der Stein der Weisen die aufgehobene Energie? – Die Umwandlung des Alchimisten selbst – Jenseits dieser Grenze beginnt die wahre Metaphysik

 

Der moderne Alchimist ist ein Mensch, der die Abhandlungen der Kernphysiker studiert. Für ihn steht fest, dass Umwandlungen und noch außergewöhnlichere Erscheinungen mit verhältnismäßig einfachen Mitteln und Techniken erzielt werden können. Die Alchimisten von heute sind es, bei denen man den Geist des isoliert arbeitenden Forschers wiederfindet. Die Bewahrung einer solchen Haltung ist für unsere Epoche sehr wertvoll. Wir haben uns mit der Zeit eingeredet, ein Fortschritt der Forschungen sei nicht mehr ohne ein riesiges Team, eine ungeheure Apparatur und enorme finanzielle Mittel möglich. Die grundlegenden Entdeckungen jedoch, wie etwa die der Radioaktivität oder der Wellenmechanik, wurden von isoliert arbeitenden Männern gemacht. Amerika, das Land der großen Arbeitsteams und der großen Mittel, schickt heute Agenten in alle Welt, die originelle Köpfe aufspüren sollen. Der Leiter des amerikanischen Instituts für Wissenschaftliche Forschung, Dr. James Killian, hat im Jahre 1958 erklärt, es sei völlig falsch, allein auf die Kollektivarbeit zu vertrauen; man müsse versuchen, mit selbständig arbeitenden Männern, die eigene Ideen haben und entwickeln, in Verbindung zu kommen. Rutherford hat seine wichtigsten Experimente zur Erforschung der Atomstruktur mit Hilfe von Konservenbüchsen und Bindfadenenden gemacht. Jean Perrin und Marie Curie schickten vor dem Kriege ihre Mitarbeiter am Sonntag auf den Flohmarkt, um dort etwas Material zu erstehen. Gewiss, wir wollen nicht in Abrede stellen, dass großzügig ausgestattete Laboratorien heute notwendig sind, aber trotzdem wäre es unserer Ansicht nach wichtig, eine gewisse Verbindung zwischen diesen Laboratorien, diesen Teams und den isoliert arbeitenden Gelehrten herzustellen. Die Alchimisten jedoch werden sich dieser Einladung wohl entziehen. Ihre Regel ist das Schweigen. Ihr Ehrgeiz ist geistiger Art. «Es steht außer Zweifel schreibt René Alleau, «dass die in der Alchimie gebräuchlichen Handgriffe und Tätigkeiten einer inneren Askese als Stütze dienen.» Wenn die Alchimie eine Wissenschaft darstellt, dann ist diese Wissenschaft nur ein Mittel, um in einen höheren Bewusstseinszustand zu gelangen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, sie nicht in den Kreis dringen zu lassen, wo sie zum Selbstzweck würde.

 

Woraus besteht das Handwerkszeug des Alchimisten? Aus den gleichen Geräten, die auch der chemische Forscher benutzt, der Mineralien unter hohen Temperaturen behandelt: Öfen, Schmelztiegel, Waagen, Messinstrumente, zu denen heute noch die modernen Geräte zur Bestimmung radioaktiver Strahlungen, wie Geigerzähler, Szintillationszähler usw., kommen.

Dieses Handwerkszeug mag lächerlich unzureichend erscheinen. Ein orthodoxer Physiker würde nie zugeben, dass es möglich ist, mit einfachen und wenig kostspieligen Mitteln eine Kathode zu fabrizieren, die Neutronen abgibt. Wenn wir recht unterrichtet sind, bringen die Alchimisten dieses Kunststück fertig. In einer Epoche, in der das Elektron als der vierte Aggregatzustand der Materie angesehen wurde, hat man außerordentlich kostspielige und komplizierte Vorrichtungen erfunden, um Elektronenströme hervorzurufen. Einige Zeit darauf, im Jahre 1910, bewiesen Elster und Gaitel, dass man zu diesem Zweck nur Kalk im luftleeren Raum zu dunkler Rotglut zu erhitzen braucht. Wir kennen noch keineswegs alle Gesetze der Materie. Wenn die Alchimie mit einfacheren Mitteln als die offizielle Wissenschaft die gleichen Resultate erzielt, so ist sie ihr zumindest in dieser Hinsicht überlegen.

 

Wir wollen jetzt – und zwar geschieht dies unseres Wissens zum ersten Mal – den Versuch unternehmen, genau zu beschreiben, was der Alchimist in seinem Laboratorium eigentlich tut. Wir können uns nicht anmassen, hier die alchimistische Methode in ihrer Gesamtheit darzulegen, aber wir meinen doch, hinsichtlich dieser Methode einige recht interessante Informationen zu besitzen.

Als erstes hat der Alchimist sich jahrelang mit der Entzifferung alter Texte beschäftigt, in die «der Leser sich ohne die Hilfe eines Ariadnefadens begeben muss, in denen er sich wie in einem Labyrinth vorkommt, das bewusst und systematisch so angelegt ist, dass der Unberufene in eine hoffnungslose geistige Verwirrung gerät». Geduld, Demut und Glaube haben den Alchimisten schliesslich zu gewissen Grad des Verstehens geführt. Wenn er bis dahin gelangt ist, kann er mit dem eigentlichen alchimistischen Experiment beginnen. Wir werden dieses Experiment beschreiben, wenngleich eines seiner Elemente uns unbekannt ist. Wir wissen, was im Laboratorium des Alchimisten vor sich geht. Wir wissen aber nicht, was im Alchimisten selbst, in seiner Seele, geschieht. Möglicherweise ist alles eng miteinander verbunden. Möglicherweise spielt die spirituelle Kraft bei den physikalischen und chemischen Manipulationen der Alchimie eine große Rolle. Möglicherweise ist eine bestimmte Art, die spirituelle Kraft zu erlangen, zu konzentrieren und in eine Richtung zu lenken, unerlässlich für das Gelingen der alchimistischen «Arbeit». Das alles ist nicht bewiesen, aber wir kommen bei einem so schwierigen Thema nicht umhin, auf ein Wort Dantes zu verweisen: «Ich sehe, dass du diese Dinge glaubst, weil ich sie dir sage. Aber du kennst den Grund nicht, und somit bleiben dir die Dinge, obwohl du sie glaubst, darum doch nicht weniger verborgen.»

Unser Alchimist beginnt damit, dass er in einem Achatmörser eine aus drei Substanzen zusammengesetzte innige Mischung herstellt. Der erste Bestandteil, der 95 Prozent der Mischung beträgt, ist ein Mineral: ein Schwefelkies zum Beispiel oder ein Eisenerz, das als Unreinheiten Arsen und Antimon enthält. Die zweite Komponente ist ein Metall: Eisen, Blei, Silber oder Quecksilber. Der dritte Bestandteil ist eine organische Säure: Weinsäure oder Zitronensäure. Fünf oder sechs Monate lang müssen nun diese Materialien mit der Hand zerstoßen und vermischt werden. Dann wird das Ganze in einem Schmelztiegel erhitzt. Der Alchimist steigert allmählich die Temperatur und setzt diese Operation zwölf Tage hindurch fort. Er muss dabei sehr vorsichtig zu Werk gehen. Es entwickeln sich giftige Gase: der Quecksilberdampf und vor allem der arsenhaltige Wasserstoff hat manchen Alchimisten schon in den ersten Stadien seiner Arbeit getötet.

Schließlich löst er den Inhalt des Schmelztiegels vermittels einer Säure auf. Auf der Suche nach einem geeigneten Lösemittel haben die Alchimisten früherer Zeiten die Essigsäure, die Salpetersäure und die Schwefelsäure entdeckt. Dieser Lösungsprozess muss sich unter polarisiertem Licht vollziehen: entweder in schwachem, durch einen Spiegel reflektiertem Sonnenlicht oder im Mondlicht. Nun lässt der Alchimist den flüssigen Teil verdunsten und den festen von neuem ausglühen. Mehrere Jahre hindurch wird er diese Operationen Tausende von Malen wiederholen. Warum? Wir wissen es nicht. Vielleicht in Erwartung des Augenblicks, in dem die besten Bedingungen zusammentreffen: kosmische Strahlung, Erdmagnetismus usw. Vielleicht auch, um eine uns noch unbekannte «Ermüdung» der Materie in ihren tiefsten Strukturen zu erreichen. Der Alchimist spricht von «heiliger Geduld», von einer langsamen Verdichtung des «universellen Geistes». Hinter dieser para-religiösen Sprache verbirgt sich bestimmt etwas anderes.

Diese Arbeitsmethode, bei der unendliche Male dieselbe Manipulation wiederholt wird, mag einem modernen Chemiker als purer Wahnsinn erscheinen. Man hat ihn gelehrt, dass es nur eine einzige gültige Experimentalmethode gibt: die von Claude Bernard. Ihr Prinzip ist die Veränderung. Man wiederholt Tausende von Malen das gleiche Experiment, verändert jedoch jeweils einen der Faktoren: das Mischungsverhältnis der verschiedenen Bestandteile, die Temperatur, den Druck, den Katalysator usw. Man notiert die erzielten Resultate und folgert aus ihnen einige der Gesetze, die für die betreffende Erscheinung maßgebend sind. Das ist eine Methode, die sich bewährt hat, aber sie ist nicht die einzig mögliche. Der Alchimist wiederholt sein Experiment, ohne irgendetwas zu verändern, bis etwas Außergewöhnliches eintritt. Er glaubt im Grunde an ein Naturgesetz, das dem vom Physiker Wolfgang Pauli, dem Freund Jungs, formulierten «Exklusionsprinzip» ähnelt. Für Pauli kann es in einem gegebenen System (dem Atom und seinen Molekülen) nicht zwei Elementarteilchen (Elektronen, Protonen, Mesonen) im gleichen Zustand geben. Alles in der Natur ist einzig: «Deiner Seele ist keine andere gleich…» Darum geht man unmittelbar, ohne Zwischenstadium, vom Wasserstoff zum Helium über, vom Helium zum Lithium und so immer weiter auf dem Weg, den das Periodische System der Elemente dem Atomforscher weist. Wenn man einem System ein Elementarteilchen hinzufügt, so kann dieses Elementarteilchen keinen der im Inneren dieses Systems vorhandenen Zustände annehmen. Es nimmt einen neuen Zustand an und lässt in Verbindung mit den bereits vorhandenen Elementarteilchen ein neues und einzigartiges System entstehen.

Der Morgen der Magier

Ebenso wie es für den Alchimisten nicht zwei gleiche Seelen, zwei gleiche Wesen, zwei gleiche Pflanzen (Pauli würde sagen: zwei gleiche Elektronen) gibt, sind auch nicht zwei gleiche Experimente denkbar. Wenn man ein Experiment Tausende von Malen wiederholt, wird sich schließlich etwas Außergewöhnliches ereignen. Wir sind nicht kompetent genug, um zu sagen, ob der Alchimist recht oder unrecht hat. Wir beschränken uns auf den Hinweis, dass eine moderne Wissenschaft, die Wissenschaft der kosmischen Strahlungen, eine Methode anwendet, die sich durchaus mit der Methode des Alchimisten vergleichen lässt. Diese Wissenschaft untersucht die Erscheinungen, die sich ergeben, wenn von gewissen Sternen stammende Teilchen, die eine außerordentliche Energie besitzen, auf ein Radioteleskop oder eine Platte treffen. Diese Erscheinungen können nicht willkürlich hervorgerufen werden. Man muss sie abwarten. Zuweilen registriert man dabei eine ganz außergewöhnliche Erscheinung. So ereignete es sich zum Beispiel, dass im Sommer 1957 im Verlauf der in den Vereinigten Staaten von Professor Bruno Rossi angestellten Untersuchungen ein von einer bis dahin noch nie registrierten, ungeheuren Energie angetriebenen Teilchens, das vielleicht aus einem fernen Milchstraßensystem kam, in einem Umkreis von acht Quadratkilometern gleichzeitig 1500 Zähler zum Ausschlagen brachte und auf seinem Weg eine riesige Garbe von zertrümmerten Atomen hinterließ. Man kann sich keine Maschine vorstellen, die imstande wäre, eine derartige Energiemenge hervorzubringen. Die Gelehrten erinnern sich nicht, dass jemals zuvor ein solches Ereignis eingetreten wäre, und man weiß nicht, ob es sich je wiederholen wird. Nun ist das, was der Alchimist zu erwarten scheint, ein außergewöhnliches Ereignis irdischen oder kosmischen Ursprungs, das auf den Inhalt seines Schmelztiegels einwirkt. Vielleicht könnte er die Wartezeit abkürzen, indem er Mittel benutzt, die aktiver sind als das Feuer, das heißt, wenn er zum Beispiel seinen Tiegel vermittels der Levitationsmethode[1] in einem Induktionsofen erhitzte oder auch wenn er seiner Mischung radioaktive Isotope beifügte. Auf diese Weise könnte er seine Manipulation nicht nur einige Male pro Woche, sondern mehrere Millionen Male pro Sekunde wiederholen und somit die Chancen, das für das Gelingen des Experiments nötige «Ereignis» einzufangen, vervielfachen. Aber der Alchimist von heute arbeitet, genau wie der von gestern, in der Verborgenheit und hält das Warten für eine Tugend.

Fahren wir in unserer Beschreibung fort. Nach einigen Jahren, in denen unser Alchimist Tag und Nacht unablässig die gleiche Arbeit verrichtet hat, kommt er schließlich zu der Überzeugung, dass die erste Phase abgeschlossen ist. Er fügt jetzt seiner Mischung ein Oxydiermittel, z. B. Kaliumnitrat, zu. In seinem Schmelztiegel hat er aus Schwefelkies entstandenen Schwefel und aus einer organischen Säure hervorgegangene Kohle. Schwefel, Kohle und Nitrat: bei der Herstellung dieser Mischung haben die alten Alchimisten das Schießpulver erfunden.

Jetzt beginnt der Alchimist wieder, den Inhalt seines Tiegels aufzulösen und dann auszuglühen, und setzt diese Tätigkeit durch Monate oder auch Jahre fort. Er wartet auf ein Zeichen. Über die Art dieses Zeichens geben die alchimistischen Werke widersprechende Auskünfte; aber dieser Umstand lässt sich vielleicht dadurch erklären, dass mehrere Möglichkeiten vorhanden sind. Einige Alchimisten sprechen von der Bildung sternförmiger Kristalle auf der Oberfläche der Flüssigkeit, andere von einer Oxydschicht, die auf dieser Oberfläche erscheint, sich dann zerteilt und ein leuchtendes Metall enthüllt, in dem sich in kleinstem Maßstab sowohl die Milchstraße wie alle Sternbilder zu reflektieren scheinen.

Wenn er dieses Zeichen empfangen hat, nimmt der Alchimist seine Mischung aus dem Schmelztiegel und lässt sie, vor Luft und Feuchtigkeit geschützt, bis zum ersten Tag des nächsten Frühlings «reifen». Wenn er dann seine Arbeit wieder aufnimmt, wird sie, wie es in den alten Texten ausgedrückt wird, auf die «Schaffung des Dunkels» abzielen. Neuere Forschungen zur Geschichte der Chemie haben ergeben, dass der deutsche Mönch Berthold Schwarz, dem gemeinhin die Erfindung des Schießpulvers im Abendland zugeschrieben wird, niemals existiert hat. Er ist eine symbolische Figur dieser «Schaffung des Dunkels».

Die Mischung wird in einen durchsichtigen Behälter aus Bergkristall getan, der auf besondere Weise verschlossen wird. Man hat wenig Hinweise auf die Art dieses Verschlusses, der als «Verschluss des Hermes» oder hermetischer Verschluss bezeichnet wird. Von nun an besteht die Arbeit darin, den Behälter zu erhitzen, wobei ganz außerordentliche Sorgfalt auf die richtige Dosierung der Wärmemenge verwandt werden muss. Die in dem verschlossenen Gefäß befindliche Mischung besteht immer noch aus Schwefel, Kohle und Nitrat. Es geht darum, diese Mischung auf einen bestimmten Grad der Weißglut zu bringen, ohne dass Sauerstoff hinzutritt und dadurch eine Explosion erfolgt. Man hat von zahlreichen Fällen gehört, in denen Alchimisten schwere Verbrennungen erlitten oder getötet wurden, da die Explosionen, die sich während dieses Stadiums der Arbeit ereignen, ganz besonders heftig sind und außerordentliche Hitzegrade entwickeln.

Das Ziel, das jetzt verfolgt wird, ist die Bildung einer «Essenz» oder eines «Fluidums», das die Alchimisten zuweilen den «Rabenflügel» nennen.

Betrachten wir diesen Vorgang etwas genauer. In der Physik und der modernen Chemie gibt es nichts, was ihm an die Seite zu stellen wäre. Immerhin weiß man von analogen Erscheinungen. Wenn man in flüssigem Ammoniakgas ein Metall, etwa Kupfer, auflöst, entsteht eine dunkelblau gefärbte Flüssigkeit, die bei starker Konzentration ins Schwarze hinüberspielt. Die gleiche Erscheinung tritt auf, wenn man in flüssigem Ammoniakgas unter starkem Druck Wasserstoff oder organische Amine auflöst, um die unbeständige Verbindung NH4 zu erhalten, die alle Eigenschaften eines Alkalimetalls besitzt und aus diesem Grunde «Ammonium» genannt wird. Es besteht Anlass zu der Vermutung, dass diese blauschwarze Färbung des von den Alchimisten erzielten flüssigen Stoffes, die an einen «Rabenflügel» erinnert, genau die Farbe des elektronischen Gases ist. Was ist das «elektronische Gas»? Für die modernen Wissenschaftler ist es die Gesamtheit der freien Elektronen, die ein Metall bilden und seine mechanischen, elektrischen und thermischen Eigenschaften wahren. Diesem heutigen Begriff entspricht, was der Alchimist die «Seele» oder auch die «Essenz» der Metalle nennt. Diese Seele oder Essenz aber ist es, die sich in dem hermetisch verschlossenen Gefäß des Alchimisten absondert.

Er erhitzt den Inhalt des Gefäßes, lässt ihn wieder erkalten, erhitzt ihn von neuem und setzt diese Tätigkeit Monate oder Jahre hindurch fort. Durch den Bergkristall hindurch beobachtet er dabei die Entwicklung dessen, was auch als «alchimistisches Ei» bezeichnet wird: eben jene Mischung, die sich in eine blauschwarze Flüssigkeit verwandelt hat. Endlich öffnet er das Gefäß in einem dunklen Raum. Sobald die fluoreszierende Flüssigkeit mit der Luft in Berührung kommt, erhärtet und teilt sie sich.

Der Alchimist erhält auf diese Weise völlig neue, in der Natur unbekannte Stoffe, die alle Eigenschaften der chemisch reinen Elemente besitzen, das heißt, mit chemischen Mitteln nicht weiter zerlegbar sind.

Moderne Alchimisten behaupten, vermittels dieser Methode beträchtliche Mengen neuer chemischer Grundstoffe fabriziert zu haben. So soll Fulcanelli aus einem Kilo Eisen zwanzig Gramm eines absolut neuen Elements extrahiert haben, dessen chemische und physikalische Eigenschaften mit keinem der bekannten chemischen Grundstoffe übereinstimmen. Das gleiche Verfahren, so wird behauptet, sei auf alle Grundstoffe des periodischen Systems anwendbar, wobei sich für jede verwendete Substanz in der Mehrzahl der Fälle zwei neue Elemente ergäben.

Eine derartige Erklärung ist dazu angetan, den normalen Wissenschaftler vor den Kopf zu stoßen. Theoretisch sind heutzutage nur die folgenden Zerlegungen eines chemischen Grundstoffes möglich:

Das Molekül eines Elements kann verschiedene Zustände annehmen, etwa sich in Ortho-Hydrogen und Para-Hydrogen aufteilen.

Der Atomkern eines Grundstoffs kann mehrere isotopische Strukturen annehmen, die durch die verschiedene Anzahl der Neutronen gekennzeichnet sind. So enthält im Lithium 6 der Atomkern drei Neutronen, im Lithium 7 aber vier.

Um die verschiedenen allotropen Zustände des Moleküls und die einzelnen isotopischen Varianten des Atomkerns zu isolieren, bedarf es beim heutigen Stand der Technik zahlreicher und äußerst komplizierter Vorrichtungen.

Die Mittel des Alchimisten sind im Vergleich dazu lächerlich einfach, und trotzdem will er damit nicht nur eine Zustandsveränderung des Stoffes, sondern die Erschaffung einer ganz neuen Substanz erreichen oder doch wenigstens eine Zerlegung und Umkonstruierung der vorhandenen Materie. Alle unsere Erkenntnisse über das Atom basieren auf dem Rutherford-Bohrschen Atommodell, das einen Kern und auf Ellipsenbahnen um ihn kreisende Elektronen voraussetzt. Es ist allerdings nicht ausgeschlossen, dass eine zukünftige neue Theorie es uns ermöglichen wird, Zustandsveränderungen   und Aufspaltungen chemischer Elemente zu erreichen, die für den Augenblick noch undenkbar erscheinen.

Unser Alchimist hat nun also seinen Behälter aus Bergkristall geöffnet und durch Abkühlung der fluoreszierenden Flüssigkeit an der Luft einen oder mehrere neue Stoffe erhalten. Es bleiben Schlacken zurück. Diese Schlacken wird er jetzt einige Monate lang in dreifach destilliertem Wasser waschen. Dann wird er dieses Wasser in einem Raum aufbewahren, wo es vor Licht und Temperaturschwankungen geschützt ist.

Dieses Wasser nun besitzt, wie behauptet wird, außergewöhnliche chemische und medizinische Eigenschaften. Es ist das universale Lösemittel, das Lebenselixier der Überlieferung, das Elixier des Doktor Faust[2].

Hier scheint die alchimistische Tradition im Einklang mit der avantgardistischen Forschung zu stehen. Für die ultramoderne Wissenschaft ist das Wasser tatsächlich eine äußerst komplexe Mischung, bei der sich die verschiedensten chemischen Reaktionen ergeben können. Die Forscher, die sich mit der Frage der Oligo-Elemente beschäftigen, insbesondere Dr. Jacques Ménétrier, haben festgestellt, dass praktisch alle Metalle lösbar sind, wenn man bestimmte Katalysatoren, wie Traubenzucker, hinzufügt und methodische Temperaturveränderungen vornimmt. Das Wasser kann zudem unter der Einwirkung von Edelgasen, wie Helium oder Argon, Hydrate, also regelrechte chemische Verbindungen, bilden. Wenn man wüsste, welcher Bestandteil des Wassers für die Erzeugung von Hydraten im Kontakt mit einem Edelgas verantwortlich ist, wäre es möglich, die auflösende Kraft des Wassers zu erhöhen und auf diese Weise ein echtes Universal-Lösemittel zu erhalten. Die durchaus seriöse russische Zeitschrift, deren Titel in der Übersetzung «Wissen und Kraft» lautet, schrieb in ihrer Nummer 11 des Jahres 1957, dass man vielleicht eines Tages zu diesem Ergebnis gelangen könne, indem man das Wasser mit Kernstrahlungen «bombardiert», und dass das Universal-Lösemittel der Alchimisten noch in diesem Jahrhundert zu einer Realität werden könne. Diese Zeitschrift fasste auch eine Reihe von Anwendungsmöglichkeiten ins Auge, u. a. Tunnelbohrungen mit Hilfe eines aus aktiviertem Wasser bestehenden Strahls.

Unser Alchimist ist nun also im Besitz einer gewissen Anzahl einfacher, in der Natur unbekannter Stoffe. Außerdem hat er einige Flaschen mit einem alchimistischen Wasser, dem die Fähigkeit innewohnt, durch eine Verjüngung der Gewebe sein Leben beträchtlich zu verlängern.

Er wird jetzt versuchen, die einfachen Stoffe, die er erhalten hat, erneut miteinander zu verbinden. Er vermischt sie in seinem Mörser und schmilzt sie bei niedrigen Temperaturen unter Zusatz von Katalysatoren, über deren Natur die alten Texte nur sehr vage Angaben machen. Je weiter man im Studium der alchimistischen Manipulationen vordringt, umso schwieriger lassen sich die Texte entziffern. Jedenfalls wird diese neue Arbeit unseren Alchimisten noch mehrere Jahre in Anspruch nehmen.

Er erhält jetzt, so versichert man, Stoffe, die ganz und gar bekannten Metallen ähneln, insbesondere Metallen, die gute Wärme- und Elektrizitätsleiter sind: alchimistisches Kupfer, alchimistisches Silber, alchimistisches Gold. Die klassischen Tests und die Spektroskopie wären nicht imstande, an diesen Stoffen etwas Neues zu entdecken, und doch besitzen sie völlig neue und überraschende Eigenschaften, die von denen der bekannten Metalle abweichen.

Wenn unsere Informationen zutreffen, so setzt das dem gewöhnlichen Kupfer so ähnliche und doch so andersartige alchimistische Kupfer dem elektrischen Strom einen außerordentlich schwachen Widerstand entgegen, vergleichbar dem der Supraleiter, bei denen der Physiker einen dem Nullpunkt naheliegenden Widerstand erzielt. Die Verwendung eines derartigen Kupfers würde eine Umwälzung in der Elektrochemie bedeuten. Andere Stoffe, die bei diesem alchimistischen Verfahren entstehen, sollen noch erstaunlichere Eigenschaften besitzen. Einer derselben soll bei verhältnismäßig niedriger Temperatur in Glas lösbar sein, und zwar vollzieht sich diese Auflösung, noch bevor der Schmelzpunkt des Glases erreicht ist. Wenn diese Substanz mit dem leicht erweichten Glas in Berührung kommt, dringt sie in dieses ein und verleiht ihm eine rubinrote Färbung, die im Dunkeln einen malvenfarbenen Schimmer verbreitet. Das Pulver, das man erhält, wenn das so veränderte Glas in einem Achatmörser zerstampft wird, nennen die alchimistischen Texte das «philosophische Pulver» oder den «Stein der Weisen». «Damit», so schreibt Bernard Graf de la Marche Trévisane in seiner philosophischen Abhandlung, «ist die Herstellung dieses kostbaren Steins erreicht, dessen Wert den jedes Edelsteins bei weitem übersteigt und der einen unermesslichen Schatz zur Ehre Gottes darstellt, welcher ewiglich lebt und regiert.»

Man kennt die Wundergeschichten, die von diesem Stein oder Pulver erzählt werden. Man weiß, dass ihm die Fähigkeit zugeschrieben wird, Transmutationen von Metallen in wägbaren Mengen zu vollziehen. Vor allem soll er gewisse wertlose Metalle in Gold, Silber oder Platin verwandeln können. Aber das wäre nur ein Aspekt seiner wunderbaren Eigenschaften. Es wird behauptet, er sei außerdem noch eine Art Reservoir der aufgehobenen Kernenergie, die sich nun nach Belieben verwenden ließe.

Wir werden gleich noch auf die Fragen zurückkommen, die sich dem modernen aufgeklärten Menschen angesichts der alchimistischen Methoden aufdrängen. Zunächst aber wollen wir da anhalten, wo auch die alchimistischen Texte aufhören. Das «Große Werk» ist vollendet. Nun vollzieht sich im Alchimisten selbst eine Umwandlung, die diese Texte erwähnen, die wir jedoch nicht zu beschreiben vermögen, da uns hierfür nur sehr unzulängliche Begriffe zur Verfügung stehen. Diese Umwandlung wäre so etwas wie eine durch ein einzelnes privilegiertes Wesen offenbarte Erkenntnis dessen, was die gesamte Menschheit erwartet, wenn sie ihren geistigen Kontakt mit der Erde und ihren Elementen vollzogen hat: ein Aufgehen in einem höheren Geist, eine Konzentrierung auf einen festen spirituellen Punkt, das Anknüpfen von Verbindungen mit anderen geistigen Zentren über kosmische Räume hinweg. Nach und nach oder auch in einer blitzartigen Eingebung entdeckt der Alchimist den Sinn seiner langen Mühen. Die Geheimnisse der Energie und der Materie liegen offen vor ihm, und gleichzeitig enthüllen sich ihm die unendlichen Perspektiven des Lebens. Er besitzt den Schlüssel zur Mechanik des Universums. Er selbst stellt neue Beziehungen zwischen seinem eigenen, nunmehr «beseelten» Geist und dem in ewigem Fortschritt auf die Konzentration zustrebenden Weltgeist her. Sollten wohl bestimmte Strahlungen des «philosophischen Pulvers» die Ursache für die Transmutation der Psyche sein? René Alleau schreibt:

 «So stellt der Stein der Weisen die erste Stufe dar, die dem Menschen helfen kann, sich zum Absoluten zu erheben. Jenseits dieser Stufe beginnt das Geheimnis. Und diesseits von ihr gibt es kein Geheimnis, keine Esoterik, keine anderen Schatten als diejenigen, die unsere Wünsche und vor allem unsere Überheblichkeit werfen. Aber ebenso wie es viel leichter ist, sich mit Ideen und Worten zufriedenzugeben, als etwas mit seinen Händen, mit Schmerzen und Anstrengungen im Schweigen und in der Einsamkeit zu vollbringen, ist es auch bequemer, im sogenannten <reinen> Gedanken seine Zuflucht zu suchen, als Brust an Brust mit der Schwere und dem Dunkel der Materie zu ringen. Die Alchimie untersagt ihren Schülern jede Ausflucht dieser Art. Sie stellt sie Auge in Auge dem großen Rätsel gegenüber … Sie verspricht uns nur eins: wenn wir unablässig kämpfen, um uns von der Unwissenheit zu befreien, wird schließlich die Wahrheit selbst für uns kämpfen und am Ende den Sieg über alles erringen. Dann wird vielleicht die wahre Metaphysik beginnen.»

 

Le Matin des Magiciens

 

[1] Die Methode besteht darin, dass man vermittels eines magnetischen Felds die Mischung, die geschmolzen werden soll, im luftleeren Raum, also ohne, dass sie mit irgendeinem Körper in Berührung kommt, gewissermaßen aufhängt.

[2] Professor Ralph Milne Farley, Mitglied des amerikanischen Senats und Professor für moderne Physik an der Militärakademie von West Point, hat auf die Tatsache aufmerksam gemacht, dass gewisse Biologen das Phänomen des Alterns einer Anhäufung von schwerem Wasser im Organismus zugeschreiben. Das Lebenselixier der Alchimisten wäre demnach eine Substanz, die die Eigenschaft hat, das schwere Wasser auszusondern und zu eliminieren. Derartige Substanzen sind im Wasserdampf enthalten. Warum sollten sie nicht auch in einem auf besondere Art behandelten flüssigen Wasser vorhanden sein?

 

 

 


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